Sterben ist das Gegenteil von Geboren-werden. Das Gegenteil von Leben gibt’s doch gar nicht. Deshalb müsste man eigentlich weinen, wenn ein Kind geboren wird – und feiern, wenn einer das Leben hinter sich lässt. Warum denn nicht schnurstracks auf das Ziel zugehen? Aber das ist leichter gesagt als getan, denn es gibt genügend von der Sorte, die mir in die Suppe spucken und mich an der Ausübung meines Berufes hindern wollen. Diese Besserwisser, diese Ärzte, diese Wissenschaftler und all die, die das Leben künstlich verlängern wollen auf Teufel komm‘ raus. Ich mach doch auch nur meinen Job.
Eigentlich verstehe ich die ganze Aufregung sowieso nicht. Man fühlt sich so wohl hier bei uns, dass keiner, aber auch wirklich keiner auch nur einen Gedanken daran verschwendet, wieder auf die Erde zurückzukehren. Wenn es hier zulande so schrecklich wäre, wie ihr euch es dort vorstellt, dann wäre doch zumindest der eine, der vor mehr als 2000 Jahren versprochen hat, wiederzukommen, hierher zurückgekehrt.
Fangen wir mal am Anfang an. Ich wurde auf den Namen Jen getauft. Mein Vater hat mir zudem auch noch einen Geheimnamen gegeben: Amuli. Diesen Namen hat er für mich ausgesucht, weil ich keinen Bock hatte, auf die Welt zu kommen. Ich habe einen siamesischen Zwillingsbruder. Er wurde auf den Namen Dies getauft. Unser Familienname ist Seits. Auch ihm hat mein Vater einen Geheimnamen gegeben, und zwar : Amú Mot Binam. Als wir noch klein waren, haben wir oft Verstecken gespielt. Meine Lieblingsverstecke im Bauch unserer Mutter waren : zwischen den Lianen ihres Magens, unter dem Fels ihres Herzens, unter dem Schutz ihrer linken Niere, im Schatten ihres Blinddarms. Außerdem kletterte ich gerne die Leiter ihres Rückgrats rauf und runter.
Mein Bruder versteckte sich am liebsten unter den durchfahrenden Zügen im Dickdarm. Es machte ihm regelrecht Spaß, sich an den Proviantwagons festzuhalten, die da durchbretterten. Wie oft hat er riskiert, bei diesem Spiel mit dem Feuer aus dem Bauch unserer Mutter abgeschoben zu werden. Mein Vater schimpfte ihn deshalb : Du mein lieber Sohn, du Abenteurer, mal den Teufel nicht an die Wand ! Halt dich ja nicht an den Wagons fest, wenn deine Mutter sich hinhockt und konzentriert bei der Sache ist. Aber was verstehen die Kinder schon von den Ratschlägen der Erwachsenen ?
Wir waren unzertrennlich. Wer ihn sah, konnte sicher sein, dass ich nicht weit war. Wer mich sah, wußte sofort, dass er auch da war. Er war wie ich und ich war wie er. Er war sozusagen mein Schatten und ich war seine Silhouette. Ach, die guten alten Zeiten. Man muss zugeben, dass es uns an nichts mangelte. Wenn ich die Gemälde der Künstler betrachte und die Bücher der Schriftsteller lese, kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass das das Paradies war. Aus welchem Grund sollte man das hier je verlassen? Tja, man ist wie man ist und kann seine Staatsangehörigkeit nur auf dem Papier ändern lassen. Deshalb habe ich meine Staatsbürgerschaft behalten : die Unsterblichkeit.
Eines Tages hielt die australische Nationalmannschaft kurz bei uns am Bahnhof an. Es waren nicht etwa Rugby Spieler, ihre Sportart war vielmehr Seilziehen, das gute alte Seilziehen. Aber sie spielten es auf eine seltsame Art und Weise- mit dem Skalpell, dem Hammer, mit Speculum, mit Tenaculum, mit Schere, Nadel und Faden. Was ist das denn für eine Sportart, bei der man weiße Sandalen, einen grünen Anzug und einen Maulkorb trägt? Ich sagte noch zu meinem Bruder, „Bruder“, sagte ich, „pass auf, Bruder, das sind vielleicht Marsmännchen oder verkleidete Kampfhunde.“ Aber mein Bruder hat sich von deren Spielzeugen faszinieren, skalpieren und schließlich separieren lassen. Und schon war das enfant terrible in die weite Welt hinein gezogen.
* *
Zuerst hatte ich ihm mein Kommen gesimst. Aber er hat die sms einfach gelöscht. Also mache ich mich auf den Weg, um ihm seinen Gutschein persönlich zu überbringen und einen Termin auszumachen. Weil es so dringend war, habe ich nur meine Tasche mit den Zauberuntensilien geschnappt und nicht mal mehr was gefrühstückt. Als ich bei ihm ankomme, klopfe ich an seine Tür. Kaum sieht er mich, schaltet er in den höchsten Gang wie beim Endspurt des 100 Meter Finales der Leichtathletik-Weltmeisterschaft. Am Staub, den er auf seiner Flucht vor mir aufgewirbelt hat, wäre ich drei Mal fast erstickt.
* *
Während unserer ganzen Verfolgungsjagd, hatte mein Bruder das Publikum auf seiner Seite, die Fotografen, die Kameraleute, die Rechtsanwälte, die Ärzte, die Physiotherapeuten, die Sanitäter vom Roten Kreuz, die von der Johanniter Unfallhilfe, die Schamamen, die Wissenschaftler, die Träger von Sicherheitswesten, die Träger von Rettungswesten, die Träger von Schienbeinschützern, die Feuerwehrleute, seine Eltern, seine Freunde, die Weißen, die Schwarzen, die Mischlinge, die Gelben, die Krankenversicherungsgesellschaften, die Lebensversicherungsgesellschaften, die Rentenversicherungsgesellschaften, ja sogar die Vollkaskoversicherungsgesellschaften und Seherbehinderten. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass sich alle gegen mich verschworen hatten. Das Schlimmste war, dass ich Hunger hatte und Durst, ich war so was durstig und hungrig. Ich war glücklich, als ein Schweißtropfen, statt runterzutropfen, meine Lippen streifte, wie eine Träne. Ich hätte den Schierling getrunken, wie einer Eurer Philosophen es getan hat. So furchtbar war mein Durst, dass ich alles getan hätte, nur um an der Stelle desjenigen zu sein, dem man einen Essigschwamm gereicht hat. Ich fürchtete schon, demnächst ausgetrocknet zu sein, und mit leerem Tank stehen zu bleiben. Ich hatte Magenkrämpfe, Halskrämpfe, Ohrenkrämpfe, ja sogar Haarkrämpfe. Ich bin sogar sicher, dass diese Verfolgungsjagd im Endeffekt meiner Glatze verursacht hat. Und die ganze Zeit feuerten alle Mot Binam an.
Liebes Publikum, kann ich euch etwas anvertrauen ? … Ich bin mir sicher, dass sogar mein Chef zu diesem Zeitpunkt auf der Seite meines Bruders war. Meine Eltern vielleicht… So was von krimineller Energie, so was von Hass habe ich noch nie gesehen unter zwei Brüdern, die aus demselben Bauch stammen.
Ich konnte es nicht mehr aushalten. Ich, mutter-seelen-alleine in der weiten Welt gegen den Hass von Jedermann.
Eines Abends, im neunten Monat unserer Verfolgungsjagd, nahm ich alles zusammen, was mir an Kraft noch blieb, um ihm zuzurufen, dass ich ihm doch nur eine Nachricht hinterlassen wolle, als plötzlich gar kein Staub mehr da war. Weit und breit, kein Staubwölkchen mehr zu sehen. Ein Wunder! Mot binam war verschwunden. Wie sollte ich ihn je wieder aus der Erde ausgraben? Ich hatte weder Schaufel noch Hacke. Ich hätte das doch gesehen, wenn er Flügel gehabt hätte, ich hätte es doch gemerkt, wenn er sich ins Wasser gestürzt hätte. Also muss er sich doch im Wald versteckt haben. Wie soll ich ihn denn aufspüren? Ich hätte meinen Jagdhund mitnehmen sollen. Ich durchsuche meine Tasche nach Zauberutensilien und verursache ihm zuerst mal Kopfweh. Mot Binam reagiert nicht. Als nächstes verschaffe ich ihm Bauchschmerzen, ohne Erfolg. Ich versorge ihn mit ein bißchen Krebs – immer noch keine Spur von ihm. Ich probier‘s sogar mit der Pest, kein Erfolg. Selbst die Schweinegrippe, kein Effekt. Nicht einmal bei der Impfung gegen die Schweinegrippe zeigt der Flüchtling irgendeine Reaktion. Also nehm‘ ich thailändischen Chili, mische ihn mit jamaikanischem Piment und afrikanischem Pfeffer und puste damit in die Luft. Da hör ich plötzlich Aaa Tschummm, Ha Hatschi, Und ich antworte mit Aa tschumm, Ha Hatschi. Mein lieber Bruder, du enttäuschst mich schwer. Dein Aufenthalt hier hat dich offensichtlich so schwer traumatisiert, dass du beim ersten Krach vor dem Elefanten wegrennst. Kain, Kain! Warum versteckst du dich? Wie konnte dich diese Welt des schönen Scheins so blenden, dass du dich von deinem Schatten entfremdest. Ich bin trotz alledem glücklich dich wiederzusehen. Du hättest mir erstmal eine Chance geben sollen, Dir meine Nachricht zu überbringen. Dann hätten wir drüber reden können. Im Ernst, ich bin zuerst nur zu dir gekommen, um dir zu sagen, dass ich dich in genau neun Monaten hier abholen werde. Aber jetzt ist es so weit.
Felix Kama
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